ERROR GRATA

Fehlerkulturen und Resilienz in der Raum- und Stadtplanung

TEXT: Daniel Schöngruber
BILD: Photogrammetrie | Säulentempel am Bauernberg

Die Leitbilder unserer Zeitgenossenschaft sind überwiegend geprägt von einer Null-Fehler-Kultur. Fehler werden als Scheitern angesehen und stehen Effizienzstreben im Weg. Die vorherrschenden Erwartungshaltungen zielen auf das Vermeiden von Fehlern ab, begangene Fehler werden sanktioniert. Die Angst vor Sanktionierung und negativen Auswirkungen führt in Folge oft zu einer Verheimlichung oder dem bewussten Ignorieren von Fehlern. Die Null-Fehler-Kultur hemmt auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen und sich in einer Stellungnahme klar zu positionieren. Entscheidungen können sich als falsch erweisen – eine Möglichkeit, die nur schwer in Kauf genommen werden will.
 
Doch was sind Fehler überhaupt? Wie können wir uns den Unterschied zwischen einer „richtigen“ und einer „falschen“ Entscheidung begreiflich machen?
Fehler sind nichts anderes als die Möglichkeit zu einer bewussten Entscheidung für eine Handlung und dem Begreifen deren implizierten Konsequenzen.1 Fehler verlangen nach der Möglichkeit der Wahl. Nur wo die Option einer freien Entscheidung gegeben ist, besteht auch die Möglichkeit eines Irrtums oder einer Rechtmäßigkeit. Soweit uns bekannt ist verfügen nur Menschen über die Eigenschaft der freien Wahl. Tiere werden durch ihren Instinkt von der Möglichkeit der Wahl abgehalten, Maschinen verfolgen nur vorgesehene Programmierungen. 
Irren ist also zutiefst menschlich und zugleich die beste Informationsquelle, über die wir verfügen. Fehler fordern uns auf, über uns selbst und über unsere Handlungen nachzudenken, die Auswirkungen zu reflektieren und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.
 
Das etablieren positiver Fehlerkulturen rückt seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in den Fokus von Pädagogik und Wissenschaften. Ausgehend von den Forschungen der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der Gestaltpsychologie und den Kommunikationswissenschaften erlangte die analytische Betrachtung zum Umgang mit Fehlern bald einen breiten akademischen Diskurs. Die Null-Fehler-Kultur wird immer mehr hinterfragt, neue gedankliche Modelle und linguistische Codes erprobt. Die zentralen Argumente produktiver Fehlerkulturen, die sachliche und nicht wertende Dokumentation und Aufarbeitung von Fehlern zum Zwecke der Informations- und Erkenntnisgewinnung, fanden zuerst in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften Betrachtung. Ab den 1970er Jahren gewinnt das Konzept positiver Fehlerkulturen, ausgehend vom Erfolg asiatischer Unternehmen und deren gelebter Fehlerkultur, auch zunehmend in Betriebswirtschaft und Management an Bedeutung.2
 
Der konstruktive Umgang mit Fehlern und Krisen führt, soweit die Theorie, zu einer gesteigerten Resilienz. Der Begriff Resilienz (von lateinisch resilire „zurückspringen, abprallen“) ist dabei der Physik und Werkstoffkunde entlehnt und bezeichnet die Widerstandskraft und Selbstregulationsfähigkeit von Materialien und Systemen gegenüber äußeren Einflüssen. Der Begriff wurde bald von unterschiedlichen Forschungsgebieten wie Psychologie, Sozialwissenschaft oder Ökologie übernommen und in weiterer Folge zum fast inflationär gebrauchten „Buzzword“. 
In der Definition von Resilienz muss unterschieden werden zwischen den Modellen der „Adaption“ (Anpassung) und dem der „Elastizität“. Während die Elastizität die Fähigkeit eines Elements, eines Individuums oder eines Systems bezeichnet, nach einem traumatischen Erlebnis oder einer Krise in einen stabilen Ausgangszustand zurückzukehren, bezieht sich die adaptive Resilienz auf die Eigenschaft zur Anpassung an geänderte Außenbedingungen.Elastizität stellt daher eine „technische“ Form der Resilienz dar, in der sich jedoch die Frage stellt ob das Wiedererlangen des älteren Ausgangszustands noch ein erstrebenswertes Ziel darstellt. Adaptive Resilienz wiederum kennzeichnet eine Neuausrichtung von Systemen und Verhaltensmustern an geänderte Parameter und wird daher auch als „evolutionäre“ Resilienz bezeichnet. Sie ist ein dynamischer und kontinuierlicher Prozess, der darauf abzielt, störende Einflüsse zu wandeln und sich an geänderte Rahmenbedingungen anzupassen. 
 
Da davon auszugehen ist, dass Städte ebenfalls dynamische, sich wandelnde Gefüge sind, deren Existenz sich auf einer Vielzahl ineinander verwobener und parallel existierender Systematiken stützt, scheint das Modell der „evolutionären“ Resilienz als das passendere für eine konstruktive Entwicklung. Voraussetzung für das erlangen dieser Resilienz ist jedoch erst die Etablierung einer positiven Fehlerkultur.
Das Denkmodell der „Urban Glitches“ setzt dabei mit den Mitteln der empirischen Stadtforschung dabei an, Auffälligkeiten und Störfaktoren im urbanen Gefüge zu analysieren und systemische Zusammenhänge zu begreifen. Durch die Implementation der Ansätze konstruktiver Fehlerbetrachtungen kann in der rückblickenden Analyse begangener Fehler ein wertvoller Erkenntnisgewinn entstehen. Ein revidieren von überholten Modellen wird erst durch die Betrachtung von Vergangenen möglich. 
Städte sind hierbei jedoch nicht als ein statisches, gebautes Umfeld zu betrachten, sondern als die Summe aller ihrer Bewohner*innen, Planer*innen und kommunal Verantwortlichen. Denn nur sie sind zu Fehlern fähig und können die Möglichkeit ergreifen daraus zu lernen und sich weiter zu entwickeln.

1 Retzer, Arnold. „Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken“, S. Fischer Verlag GmbH, 2013. Print.
2 “Fehlerkultur”. de.wikipedia.org. 12 Dezember 2021. Web. 29 Dezember 2021
3 Sieverts, Thomas. „Am Beginn einer Stadtentwicklungsepoche der Resilienz? Folgen für Architektur, Städtebau und Politik“, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, 2013. Print.