Digitalisierung

Programmierte Realitäten in gebautem Umfeld


TEXT: Daniel Schöngruber
BILD: Laserscan | data.ooe.gv.at

Was sind „Urban Glitches“? Wie kann diese neue Definition von städtebaulichen Phänomenen dabei helfen der aktuellen Planungskultur progressive Anstöße zu geben? Ist der Glitch als problem- oder als lösungsorientiertes Denken zu verstehen?
Um diesen Fragen zu einer Antwort zu verhelfen, müssen zuerst Prozesse der Digitalisierung erläutert und deren Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft betrachtet werden.

 
Die Digitalisierung ist spätestens seit Mitte der 90er Jahre als ein diffuser Begriff für eine technologische, soziale und auch räumliche Entwicklung der Menschheit in aller Munde. Tatsächlich beschreibt sie Prozesse der Computerisierung von Informationen und bemisst den momentanen Stand der Technik im Informationszeitalter dar. Das Informationszeitalter – auch Digitalzeitalter –  ist die dritte Epoche der Wirtschafts- und Gesellschaftsformen und begründet sich laut dem Medientheoretiker Neil Postman im exponentiellen Wachstum von Informationen und deren Verfügbarkeit.1 Der Beginn des Informationszeitalters ist ihm zufolge jedoch nicht erst auf die Einführung digitaler Technologien ab Mitte des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, sondern bereits auf die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg. Somit gestaltet sich der Übergang aus der Epoche der Industrialisierung in das Informationszeitalter als ein schleichender, langwieriger Prozess dessen Status Quo die Digitalisierung, das heißt die uneingeschränkte Quantifizierung von Daten, darstellt.
Die Auswirkungen der „digitalen Revolution“ auf Individuen und die Gesellschaft sind mannigfaltig und tiefgreifend. Die sogenannten, internetbasierten „Neuen Medien“ machen eine Neudefinition von Privatheit und Öffentlichkeit, Körperlichkeit und der Differenz von analogem und digitalem Raum unumgänglich. 
 
Das Mobiltelefon als täglicher Begleiter von inzwischen mehr als 80% aller Menschen weltweit ist mittlerweile weit mehr als nur Kommunikationsmittel. Vielmehr ist es zum integralen Bestandteil unserer Wahrnehmung, unserer Erinnerung und unseres Denkens geworden. Der Architekt Mark Wigley geht sogar so weit zu behaupten, das Smartphone habe bereits die Rolle der Architektur, ein individuelles Sicherheits- und Raumgefühl zur Orientierung zu erzeugen, übernommen.2 Es ist gleichermaßen Bibliothek, sozialer und privater Raum ohne Ortsgebundenheit und Tür zu einem Netzwerk weltumspannender Dimensionen. 
Nicht wenige Gelehrte sehen in der Entwicklung des Internets, als ein Netzwerk zur Akquirierung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen, die Etablierung eines globalen Bewusstseins. Die Unmittelbarkeit, mit derer Informationen geteilt werden und um die Welt gehen, lässt es als gemeinsames Sinnesorgan aller Menschen erscheinen.3
Die Datenverarbeitung, derer die Digitalisierung bedingt, ist allerdings von elektronischer und binärer Natur die nur zwei Zustände kennt. 0 und 1. „Aus“ und „Ein“. 
 
Maschinelle Informationsverarbeitung passiert auf dem Prinzip der Kybernetik. Diese beschreibt die Prozesse zur Regel- und Steuerungstechnik von Maschinen, vergleichbar mit der Handlungsweise von Organismen oder ganzer sozialer Systeme durch die Rückkopplung ihrer Sinneswahrnehmungen. Kybernetische Strukturen handeln demnach aufgrund empfangener Daten und der programmierten Reaktion darauf und kennzeichnen somit eine Konstruktivistische Sichtweise.
 Die Digitalisierung macht daher vor allem deutlich wie sich die menschliche Gesellschaft, mit zunehmender Intensität, in all ihren handlerischen Konsequenzen, von Sozial- und Wirtschaftssystemen bis hin zur Raum- und Stadtplanung, selbst, aktiv und unwissentlich programmiert. 
 
Menschliches Lernen oder evolutionäre Prozesse benötigen allerdings die Fähigkeit Probleme „außerhalb“ programmierter Erwartungen zu bearbeiten. Aus diesem Grunde, sowie aufgrund der rasant voranschreitenden technischen Möglichkeiten zur Datenerfassung und -verarbeitung, nutzen immer mehr digitale Systeme das Prinzip eines maschinellen Lernens. „Künstliche Intelligenz“ basiert auf der Idee Algorithmen zu programmieren die, analog zum menschlichen Verhalten, durch die Analyse vorangegangener Entscheidungen und deren Konsequenzen zu einer neuen Reaktion fähig sind. 
Programmierung ist demnach ein Lernprozess, ein Umstand der auch in den modernen Sozialwissenschaften in der Betrachtung von Fehlerkultur und Resilienz seinen Ausdruck findet.Aus der individuellen Verarbeitung negativer Ereignisse oder Probleme resultiert eine gesteigerte Resilienz, das heißt eine erweiterte Widerstandsfähigkeit von technischen, ökologischen oder psychischen Systemen.
 
Bei Computerprogrammen spricht man im Zusammenhang mit diesen negativen Ereignissen und Problemen oft von sogenannten „Glitches“. Diese bezeichnen die Sichtbarwerdung von Logikfehlern in der zugrundeliegenden Programmierung. In der audiovisuellen Ausgabe kommt es dabei zu unvorhergesehenen „digitalen Artefakten“ die die Funktionsweise des laufenden Programms beeinträchtigen. 
Der Begriff des „Glitches“ fand bald auch Verwendung in der Medienkunst. Bereits ab den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts etablierte sich die „Glitch Music“, ein bewusstes Implementieren von technischen Audioartefakten in die Musik. Auch in der Filmkunst fand die Thematik schnell Relevanz. Filme wie MatrixTotal Recall oder Ghost in the shell beschäftigten sich mit der Verschmelzung von physischen und digitalen Welten sowie deren Problemen in der inhärenten Codierung und trugen das Thema vermehrt in den Mainstream.5 Und nicht zuletzt hielt der „Glitch“ auch im Grafikdesign Einzug. Hinter der Bezeichnung der „Glitch Art“ verbirgt sich ein visueller Stil der technische Fehler für ästhetische Zwecke nutzt, sei es bewusst initiiert oder durch zufällige Prozesse. Sie verweist damit auf die Technologisierung von Design und auf die zugrundeliegenden Algorithmen, Texturen und Muster.6
 
Die Übersetzung von „Glitches“ in urbane Betrachtungen setzt die Annahme einer bewussten Programmierung des städtischen Gefüges und seiner räumlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen voraus. Probleme in dieser Programmierung, die sich in den Instrumenten der Raumplanung, der Bauordnung sowie als Reaktion auf zeitgeschichtliche Ereignisse widerspiegelt, werden, analog zu Computerprogrammen, in Form von Artefakten sichtbar. “Urban Glitches” sind also gewissermaßen sichtbar gewordene Fehler einer Planungskultur deren Prozesse entweder im Laufe der Zeit an Gültigkeit verloren haben, durch paralelle Systeme beeinträchtigt worden sind oder aber einen inhärenten Fehler im Programmcode enthalten, der aufgrund des zufälligen Auftretens verschiedener, nicht vorhergesehener Zustände in Erscheinung tritt. Das frühzeitige Erkennen eines “Urban Glitches” kann in der Stadtplanung einen entscheidenden Vorteil mit sich bringen. Die sichtbare Erscheinung einer Problemstellung in der Programmierung urbaner Prozesse benötigt zu deren Verständnis eine Betrachtung des gesamten Quellcodes und die Frage nach seiner aktuellen Relevanz.
Die Suche nach “Urban Glitches” stellt daher den Versuch dar, durch die Analyse der aufgetretenen Logikfehler Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Wirkprinzipien der ausgeführten Programmroutinen ziehen zu können und die Programmierung gegebenenfalls anzupassen.
 
Der architekturtheoretische Ansatz des „Urban Glitch“ verknüpft Sozialwissenschaftliche Forschung zur Fehlerkultur und eine systemische Betrachtung von (Stadt)Raum mit den Mitteln der Softwareprogrammierung und Fehlerdiagnose. Die Denkmuster beziehen sich dabei auf die Systemtheorie des deutschen Soziologen Niklas Luhmann7 und auf den Philosophen Jean Gebser der um 1950 erstmals die Theorie eines „integralen Bewusstseins“ äußerte.8 Gebser, wie auch Luhmann regen zu einer systemischen Betrachtung von Abhängigkeiten an und liefern Methoden zur Beschreibung von komplexen Sachverhalten. Die Forschenden nehmen dabei eine Metaperspektive ein und abstrahieren Verhältnisse und Beziehungen, um eine ganzheitliche Betrachtung zu ermöglichen. Somit stellt die Betrachtungsweise von „Urban Glitches“ weder ein problem- noch ein lösungsorientiertes Denken dar, sondern liefert eine nüchterne Interpretation von Zusammenhängen.
 
In Videospielen, die den Begriff „Glitch“ erstmals zu Bekanntheit verhalfen, wurde von den Spielern bald die Möglichkeit entdeckt die Programmierungsfehler zu eigenen Gunsten auszunutzen. „Glitches“ können hier zu Unsterblichkeit, dem Überspringen von Levels oder anderen Vorteilen verhelfen. 
Dieses Denken kann sich auch die Stadt- und Raumplanung zunutze machen, um aus der reflektiven Betrachtung systemischer Prozesse zu lernen und sich daraus weiter zu entwickeln.
Im Sinne der Aussage des Schriftstellers James Joyce animiert der „Urban Glitch“ somit zu folgender Betrachtungsweise:
Fehler sind das Tor zu neuen Entdeckungen.“

Postman, Neil. „Wir informieren uns zu Tode“.  Die Zeit, 02 Oktober 1992. Web. 08 Dezember 2021
Wigley, Mark; Colomina, Beatriz. „Homo smartphonensis – Sind wir noch Menschen? Anmerkungen zur Archäologie des Designs“ Arch+ projekt bauhaus, Arch+ Verlag GmbH, Dezember 2018. Print.
Flad, Sebastian. „Die Globalisierung unseres Denkens.“ Die Zeit, 25 September 2011. Web. 08 Dezember 2021
Schramm, Stefanie; Wüstenhagen, Claudia. „Die Kunst des Scheiterns.“ Die Zeit, 11 Juni 2013. Web. 08 Dezember 2021
Abhinav, Jai Singh. „Tron, The Matrix, Inception: Before Ready Player One: Here are seven films that explored the world of virtual reality“. firstpost.com, 29 März 2018. Web. 09 Dezember 2021
Pomerleau, Colette. “Glitch Art: Geschichte und Nutzung des Trends.“ 99designs.de. 2018. Web. 09 Dezember 2021
Höfer, Florian. “Systemtheorie Luhmann”. de.wikipedia.org. 01 November 2021. Web. 09 Dezember 2021
Lerch, Fredi. “Was, wenn Bewusstsein nicht ist, sondern wird?“. Journal-b.ch. 08 Oktober 2015. Web. 09 Dezember 2021